Uli Wiesmeier, ein Bayer aus Murnau hat mit dem Gleitschirm einen sog. "Biwakflug" gemacht, und zwar vom Lac d'Annecy in Frankreich nach Garmisch-Partenkirchen. Das heisst, als Fortbewegungsmittel dienten nur der Gleitschirm und die eigenen Füsse.
Gesamtstrecke 573 km, davon 313 in der Luft.
Da ich gern zu Fuss in den Bergen bin, aber auch als Flieger, werde ich Euch seinen Bericht hier als Fortsetzungsstory hereinbringen.
Eine lächerliche Computerstimme von der Telekom fordert mich durch meinen Telefonhörer hartnäckig auf, laut und deutlich irgendwelche Fragen zu beantworten. Von draußen dröhnt der Motorrasenmäher vom Nachbarn herüber, der eine halbstündige Regenpause dafür nutzt, seinem ohnehin nur drei Zentimeter langen Golfrasen auf den Pelz zu rücken. Im Radio Dauerfeuer durch Werbespots, als öffentlich-rechtlicher Beitrag zur Volksverblödung. Der Alltag, oder besser gesagt, der ganz normale Wahnsinn hat mich längst wieder eingeholt, obwohl ich ihm doch für knapp drei Wochen entwischen konnte. Erst gestern Abend habe ich bei strömendem Regen müde, glücklich und zufrieden den Schlüssel in das Schloss meiner Haustür gesteckt. Zurück von meiner kleinen Flucht in eine andere Welt. Ich meine nicht diese Art von Ausflügen in fremde Länder, die man im Reisebüro bucht und nicht selten in einer vollklimatisierten Kabine einer Boeing beginnt. Nein, ich meine eine Welt, die eigentlich schon hinter dem eigenen Gartenzaun anfängt. Sie zu entdecken ist sehr einfach und sehr günstig. Alles was man dazu braucht, sind gute Schuhe an den Füßen und die paar Sachen im Rucksack, die den Menschen letztendlich glücklich machen. Etwas zu trinken und zu essen, eine Jacke gegen den Regen und einen Schlafsack gegen die Kälte. Inwieweit man gewohnten Luxus wie z. B. Rucksackapotheke, Stirnlampe oder Telefon als unverzichtbar empfindet, bleibt jedem selbst überlassen. Schleppen muss man es ja auch alleine. Fehlt nur noch ein Ziel und die nötige Zeit, dieses Ziel aus eigener Kraft zu erreichen. Für einen Fußgänger bedeutet das gehen, wandern, pilgern – wie auch immer man es nennen mag. Es geht in erster Linie darum, mit jedem Schritt Neuland zu entdecken, ohne zu wissen, was der Tag bringt und wie das nächste Nachtquartier aussehen wird. Ist man auch noch in der glücklichen Lage, sich hin und wieder Flügel wachsen zu lassen, weil man gelernt hat, mithilfe eines Gleitschirms thermische Aufwinde zu nutzen, dann hat man zwar etwas mehr zu schleppen, muss aber in der Regel auch etwas weniger gehen. Die Rede ist vom so genannten Biwakfliegen, dem dreidimensionalen Fernwandern. „Wie im Himmel so auf Erden.“ Für mich mit Abstand die spannendste und intensivste Form einer Reise. Wer hat’s erfunden? Nein, ausnahmsweise nicht die Schweizer. Ein Franzose namens Didier Favre war Vater des Gedankens. Didier war Drachenflieger, bevor er, leider viel zu früh, 1994 nach einem Absturz mit einem Prototyp von uns ging. „Vol Bivouac“ war seine Passion. Sein Meisterstück, ein Trip von Monaco nach Slowenien, entlang des gesamten Alpenbogens. Die Spielregeln: Gehen und fliegen ohne Zuhilfenahme fremder Fortbewegungsmittel. Wohlgemerkt damals noch mit einem Drachen. Konnte Didier einmal nicht am Berg landen, sondern musste er sich, aus welchem Grund auch immer, für eine Landung im Talgrund entscheiden, hieß das Schwerstarbeit. Dann mussten nämlich die sperrigen 40 Kilogramm rauf auf die Schultern.
21. Juli 2007 – Die 15-Kilogramm-Rucksäcke, die wir in die Gepäcknetze des Schnellzugs München – Zürich wuchten, sind Peanuts dagegen. Wir, das sind Achim Joos und ich. Ein Duo, das unterschiedlicher nicht sein könnte. Mit leichtem Hang zur Übertreibung könnte man behaupten, Achim ist zweimal so groß, dafür nur halb so alt wie ich. Natürlich haben wir auch etwas gemeinsam, sonst hätten wir nicht zusammen diese Zugfahrt nach Annecy, Frankreich, angetreten. Damit ist nicht nur der Staubfänger in Form einer Paragliding- Worldcup-Kristallkugel gemeint, die wir beide zu Hause stehen haben. Nein, uns verbindet die Liebe zum Gebirge und die Tatsache, dass wir immer noch fürs Leben gerne Gleitschirm fliegen. Seit Jahren träumen wir von einem großen Biwakflug. Diesen Sommer passt es endlich. Auch Achim hat inzwischen seine Speedarms an den Nagel gehängt und sich offiziell von der Wettkampfbühne verabschiedet. Und ich? Ich brauche als Fotograf mal dringend eine schöpferische Pause. Genau drei Wochen haben wir Zeit, um unseren lang gehegten Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Von A nach B. Nur wo ist A und B? Zugegeben, die Versuchung, es Didier gleichzutun und die gesamten Alpen zu durchqueren, war sehr groß. Der ultimative Biwakflug. Allerdings würden drei Wochen mit Sicherheit nicht dafür reichen. Also her mit der großen Landkarte. Die Suchkriterien: schöne Landschaften, viel Fliegen und möglichst wenig Gegenwind. Nach einer langen Nacht war dann unsere individuelle Ideallinie geboren. Ein Startplatz so weit wie möglich im Westen der Alpen war mit Annecy schnell gefunden, um dann, getragen von Wetter und Wind, die Heimreise anzutreten. Dabei haben wir das Wort Heimreise wörtlich genommen und unsere eigenen Haustüren als Zielpunkte gewählt. Und da der eine in Berchtesgaden am Watzmann und der andere in Murnau am Staffelsee lebt, gab es gleich zwei Optionen. Läuft es gut mit dem Wetter, starten wir durch bis Berchtesgaden, lässt sich die Thermik aber betteln, nehmen wir Kurs auf Murnau. Diese Idee kann ich jedem, der mit dem Gedanken spielt, es uns nachzumachen, nur empfehlen, vorausgesetzt der Wohnsitz lässt diese Variante zu. Sich langsam, Schritt für Schritt, Meter für Meter, egal ob 100 oder 1000 Kilometer weit, den eigenen vier Wänden zu nähern und somit den Kreis zu schließen, empfinde ich als besonders reizvoll an der ganzen Sache. Keine Reise nach der Reise, sondern nur Schlüssel ins Schloss, Wasser in die Wanne und ab ins eigene Bett. Ankommen, im wahrsten Sinne des Wortes. Doch vorerst entfernen wir uns gerade in rasender Geschwindigkeit von unserem Ziel. Schon über zehn Stunden brettern wir im ICE durch die Nacht und nach einem langen nachdenklichen Blick aus dem Zugfenster stellt Achim fest: „He Alter, langsam wird’s ganz schön weit …“ 19 Stunden waren wir insgesamt bis zu unserem Startplatz am Col de Forclaz unterwegs und ehrlich gesagt muss man sich an die Vorstellung, diese ganze Strecke über die Berge wieder zurückzugehen oder zu -fliegen, erst langsam gewöhnen. Die Betonung liegt auf langsam, ein Begriff, der auch von uns erst wieder neu entdeckt werden muss. Vollgas auf deutschen Autobahnen, Datentransfer durch Highspeed-Leitungen oder Fastfood vom Pizzaflitza. So sieht das Alltagstrauma aus, unter dem die meisten von uns leiden. Gehen oder besser gesagt weit gehen ist wahrscheinlich die beste Medizin dafür. Die langsamste aller Fortbewegungsarten als Heilmittel, um wieder zu sich selbst zu finden.
22. Juli 2007 – Die überaus gastfreundliche Madame, die uns von der letzten Bushaltestelle im Tal hinauf zum Col mitfahren lässt, gibt alles, was der erste Gang ihres Kleinstwagens zu leisten vermag. Da stehen wir nun. An der Startlinie zu unserem Abenteuer. Völlig übernächtigt und nervös wie vor einem Worldcup-Finale. Fliegen werden wir heute sicher noch. So wie es bereits eine ganze Menge Wochenendpiloten hier in einem der bekanntesten Fluggebiete Frankreichs tun. Nur, wir wollen nicht hinunter zum Landeplatz am Lac d’Annecy. Im Gegenteil, wir wollen nach Osten, doch da steht ein großer Felsriegel namens La Tournette im Weg und der steckt immer noch in dicken Wolken. Erst eine ganze Weile später gelingt uns die Flucht durch eine kleine Wolkenlücke ins nächste Tal. Besonders lange sollte unsere erste Luftetappe nicht dauern. Zu niedrig die Wolkenbasis, zu stark der Südwestwind. Immerhin bis zum Col de Aravis hat es gereicht und wir sitzen mehr als zufrieden im Gras unter französischer Sonne. Da uns aus der Unterwelt der Meteorologie zugeflüstert wurde, es gäbe morgen noch mal die Chance, ein gutes Stück weit zu fliegen, genehmigen wir uns zum Dessert noch mehr als 900 Höhenmeter Abendsport hinauf zum L’Etale und einen Fünf-Sterne-Biwakplatz mit Blick auf den glühenden Montblanc als Nachschlag. Aber wir sind zu müde zum Schauen. Sekundenbruchteile, nachdem der Schlafsackreißverschluss zu ist, fallen wir in ein tiefes Koma.
23. Juli 2007 – Die Meteorolügen haben sich doch ein wenig verschätzt. So um die 70 km/h. Der auflebende Südweststurm bläst uns fast vom Grat. Wir schätzen die Spitzen auf über 100 Stundenkilometer. Der Klimawandel sollte in den kommenden Tagen noch mehr solcher Lektionen für uns parat halten. Also schnell wieder runter vom Berg und gehen. Zurück zum Col de Aravis und in der vom Wintertourismus heftig gebeutelten Landschaft hinüber zum Col de Jaillet. Die Kaltfront ist da. Es regnet. In einem verlassenen Ziegenstall lernen wir, dass trockener Geißenmist ausgezeichnet isoliert und vor Bodenkälte schützt. Hat man sich erst an den neuen Geruch gewöhnt, will man so eine Herberge mit keinem Hotel dieser Erde mehr tauschen.
24. Juli 2007 – Es schüttet aus Kübeln, dafür können wir ausschlafen. Als es gegen Mittag langsam heller wird, checken wir aus und gehen die letzten Meter zur Passhöhe. Wir glauben fest daran, irgendwie von dort wenigstens ins Tal von Mégève abgleiten zu können. Das alte Spiel „Hinter der nächsten Baumreihe kann man ganz bestimmt starten“ spielen wir dann solange, bis wir letztendlich unten im Tal stehen, ohne unsere Schirme ein einziges Mal ausgepackt zu haben. Bei der Hautevolee von Mégève gefällt es uns gar nicht, darum füllen wir nur schnell unsere Rucksäcke mit Köstlichkeiten der Haute Savoie, was zwar gut für den Gaumen, allerdings weniger angenehm für die Schultern ist, und starten durch zum nächsten Berg mit Startplatzpotenzial: Mont d’Arbois. Für den kommenden Tag wurde uns schon wieder gutes Flugwetter prophezeit und da Fliegen ja bekanntlich am besten von oben funktioniert, summieren sich die Höhenmeter mittlerweile schon recht beachtlich. Das Training zu Hause hat sich also gelohnt. An unserem Biwakplatz läuft derselbe Film wie gestern am L’Etale: „Alpenglühen am Montblanc“ und wir haben schon wieder einen Logenplatz.
25. Juli 2007 – Dieser Tag sollte uns abermals und diesmal schonungslos an die Grundregel des Biwakfliegens erinnern, die da lautet: „Nimm das Wetter wie es kommt“. Am Morgen sahen wir uns bereits voller Optimismus in luftigen Höhen an den Gletscherriesen des Montblanc-Massivs entlangsegeln, um am Abend irgendwo im Wallis zu landen. Doch der Himmel erzählt uns bald eine ganz andere Geschichte. Winzig kleine Wolkenfransen über den umliegenden Bergspitzen bestätigen eine minimale Arbeitshöhe und der Dunst, der uns umgibt, zeugt von extrem stabiler Luft. Ich mach’s kurz. Nach einem halbstündigen Kampf um jeden Pieps der Varios stehen wir unten im Tal bei Chedde. Zehn Kilometer. Das tut weh und es dauert ganze 900 Höhenmeter bei brütender Hitze, bis all die Bilder vom Traumflug in unseren Köpfen wieder gelöscht sind.
26. Juli 2007 – Eine warme, sternenklare Nacht in einer Blumenwiese über Plaine Jeux lässt uns unseren Fliegerfrust bald vergessen. Nur die feuchten Schlafsackhüllen und die vielen flugunfähigen Schmetterlinge in der taunassen Wiese lassen am frühen Morgen bereits erahnen, was dieser Tag noch bringen wird. Sollte er womöglich noch stabiler werden als der gestrige? Gibt es da überhaupt noch eine Steigerung? Nach einem Bilderbuchfrühstück auf der Terrasse einer kleinen Bar beziehen wir dann in der Rolle zweier getarnter Thermikspione am Startplatz Stellung. Unauffällig, aber trotzdem jederzeit startbereit. Sollte nur einer der unzähligen Schirmflieger den Hauch einer Thermikquelle markieren, schlagen wir zu. Fünf Stunden waren es sicher, die wir einfach nur dagesessen sind, um das bunte Treiben zu beobachten. Alles ist vertreten. Geschäftstüchtige Tandem-Gondolieri, hoch motivierte L-Schein-Schüler, ultracoole Local Heroes oder selbst ernannte Acro-Champions. Nicht zu vergessen die beiden etwas griesgrämig dreinschauenden Biwakflieger, die ihre Schirme nicht einmal auspacken. Obwohl der Planet erbarmungslos vom Himmel brennt, kommen alle Parapentistes, die heute hier in die Luft gehen, zusammen auf eine Gesamtstartplatzüberhöhung von höchstens fünf Metern. Um 17.00 Uhr machen wir dem Elend ein Ende, schultern unsere Rucksäcke und ziehen als bekennende Bergwanderer von dannen. Bald sind wir wieder allein, umgeben von traumhafter Landschaft, und es funktioniert. Die Formel „Nimm das Wetter, wie es kommt“, die wir beim Gehen gebetsmühlenartig vor uns hin murmeln, lässt uns das Fliegen tatsächlich erst mal vergessen.
Kleines Lexikon:
Vario - ein Gerät, das anzeigt ob man steigt oder sinkt. L-Schein-Schüler = Flugschüler mit weniger als 20 Starts local Heroes = einheimische "Stars" selbst ernannte Acro-Champions = Flieger, die meinen, sie könnten Kunstflug stabile Luft = Luft mit wenig Bewegung und wenig oder keiner Thermik
Das muss einem Traum gleich sein, diese Leichtigkeit in der Luft spüren zu dürfen, einem Schmetterling näher sein, als es sich je träumen ließe...schwelg Bitte weitererzählen
NIna Freundschaft ist Liebe ohne Flügel. {französisches Sprichwort}
27. Juli 2007 – Das Vollmond-Biwak unterhalb vom Col de Salenton wird zum Höhepunkt unserer bisherigen Tour. Eine Traumkulisse und weit und breit kein Mensch. Kleine Seen, große Berge und mittendrin dieser wilde Weg, der uns hinauf bis zur Schneegrenze bringt. Zugegeben, am Pass, ein kleiner Rückfall. Trotz Nebel und Sturmböen unruhige Gedanken, ob vielleicht doch ein Flug möglich wäre. Ein absurder Anfall, aber die Beschwerden klingen bald wieder ab. Zufrieden wandern wir bei Föhnsturm hinunter zur Landesgrenze und wieder hinauf ins schweizerische Trient, wo wir bei Madame Cappi ein kleines, schönes Zimmer mit Dusche bekommen und im Wohnzimmer das Abendessen serviert wird.
28. Juli 2007 – Die allmorgendlichen Wetterrecherchen über unser Mobiltelefon bringen unseren meditativen Pilgerrhythmus allerdings schon wieder kurz aus dem Gleichgewicht. Die Meinungen aller befragten Wetterfrösche gehen zwar ziemlich auseinander, was die Windgeschwindigkeit betrifft, sind sie sich jedoch einig: circa 30 km/h in 3000 Meter Höhe. Ein schnelles Frühstück im Stehen, der Weg hinauf zum Pointe Ronde ist noch weit und wir wollen auf keinen Fall zu spät kommen, sollte es auch nur die kleinste Chance geben, das Wallis im Flug zu erobern. Doch kaum sind wir oben, bläst uns die meteorologische Realität schon wieder gnadenlos ins Gesicht. Diesmal mit geschätzten 60 km/h. Es wäre auch zu schön gewesen … Mittlerweile sind wir schon sehr viel entspannter, nehmen es mit Fassung und genießen einfach nur die einsame Bergwelt. Beim Abstieg, an der Pass-Straße, dann der große Umschwung: Der Bergwald rauscht nicht mehr, und plötzlich reicht der Talwind aus dem Wallis bis zu uns herauf. Wir überlegen nicht lange, steigen noch einmal bis zur ersten brauchbaren Wiese auf und erleben bald eine dieser Überraschungen, die ein Fliegerleben so aufregend machen können. Die Luft labilisiert, der überregionale Wind lässt nach, und die nordwestlichen Bergflanken in Richtung Osten, die jetzt perfekt im Wind stehen, schenken uns einen abendlichen Genussflug bis nach Verbier.
(in der Gegend um Pointe Ronde. Der flache Gletscher ca. Bildmitte ist der "Glacier du Trient" und darüber die "Aiguilles dorées", die goldenen Nadeln)