(Quelle: freenet.de & P.M. / November 2001 von Peter Ripota)
Täuschung oder Wirklichkeit
Nicht erst seit den Bildern von diversen Kriegen im Nahen Osten hegen wir Zweifel, ob das, was wir sehen, auch der Wirklichkeit entspricht. Die alten Inder hatten damit kein Problem, wie die folgende seltsame Erzählung aus dem 9. Jahrhundert zeigt:
In Nordindien regierte einst ein gottesfürchtiger König namens Lavana. Eines Tages, als Lavana auf seinem Thron saß, kam ein Gaukler auf einem Pferd zur Tür herein, verneigte sich vor dem König und schwenkte seinen Zauberstab. Da fiel der König in eine Starre, erwachte nach einer Weile und fiel vom Thron. Er war völlig verwirrt und erzählte seinen Zöglingen folgende Geschichte:
"Ich sah mich auf dem Pferd des Gauklers weit weg reiten, in eine Wüste, wo ich zu Boden fiel und mich hungrig und durstig auf den Weg machte. Eine junge Frau sagte, sie gebe mir zu essen, wenn ich sie heirate, denn sie wäre eine Unberührbare. Ich tat es, lebte mit ihr an die sechzig Jahre und zeugte mit ihr vier Kinder. Doch eines Tages, ich war alt und dürr, brach eine entsetzliche Hungersnot aus, und die Leute verhungerten zu Hauf. Da zog ich mit meiner Familie in die Wüste und bat meine Frau, mich auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen und mein Fleisch zu essen. Gerade, als ich mich auf das Feuer werfen wollte, stürzte ich vom Thron."
Herr, sagten die Zöglinge, das war kein gewöhnlicher Gaukler, sondern ein Gott, der uns zeigen wollte, daß die ganze Welt nur Illusion ist. Doch der König war damit nicht zufrieden, zog am nächsten Tag in die Wüste, zum Volk der Unberührbaren, erkannte das Land wieder und fand eine uralte Frau, die seine Schwiegermutter war. Sie bestätigte alle seine Erinnerungen. So war also alles wahr gewesen, und was ihm wie ein Augenblick als König erschienen war, das hatte in Wahrheit ein ganzes Menschenleben gewährt.
Doch uns Abendländer quält die Frage: Wach ich oder träum ich?
Das können Sie ganz leicht herausfinden: Sie müssen nur (im Traum) irgend etwas lesen, ein Hinweisschild, eine Überschrift, irgend etwas mit mindestens vier Zeichen. Dann drehen Sie sich um, drehen sich wieder zurück und lesen das Ganze noch einmal. Wenn das Gleiche dort steht, sind Sie wach; wenn nicht, träumen Sie. Aus unbekannten Gründen kann man im Traum nicht zweimal das Gleiche lesen!
Wesentlich für die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Einbildung ist unser Erinnerungsvermögen - und um das ist es notorisch schlecht bestellt, wie alle Richter und Vernehmungsbeamten bezeugen können. Vor Jahren machten Prozesse Furore, in denen Frauen von plötzlich hervor quellenden Erinnerungen über sexuellen Missbrauch in der Kindheit berichteten, unterstützt von karrieresüchtigen Therapeuten, mit fatalen Folgen für die beschuldigten Väter oder Pfarrer. Denn vieles war durch "Rückführungstherapien" fantasiert, erdichtet, oder von gewissenlosen Therapeuten suggeriert.
Warum hat der Mensch ein so schlechtes Gedächtnis? Die Antwort darauf hängt davon ab, wie wir die Frage auffassen: Ist das "warum" kausal oder teleologisch gemeint? Auf deutsch: Suchen wir nach der Ursache unseres Vergessens oder nach dem Sinn? Die zweite Variante ist vermutlich leichter zu beantworten als die erste: Ein Lebewesen, das nichts vergißt, bei dem jede Erinnerung so lebendig ist wie die Realität - ein solches Lebewesen könnte nicht überleben, da es in keinem Augenblick wüßte, was real und was erinnert ist.
Ein Mensch kam diesem Ideal des perfekten Gedächtnisses (das gar keines ist) sehr nahe. Der russische Reporter W. Schereschweskji, der von dem berühmten Psychologen Alexander Luria untersucht wurde, konnte sich an alles erinnern, was er je sah, hörte oder fühlte. Sogar glaubhafte Erinnerungen ans Säuglingsalter waren vorhanden. Indes: Schereschweskji war unfähig zu jeglicher Abstraktion, der Grundlage unseres wissenschaftlichen Denkens. Er konnte seine Erinnerungen nicht organisieren, und im Alter bemühte er sich ebenso verzweifelt wie vergebens zu vergessen. Denn der leiseste Anstoß setzte eine Flut von Erinnerungen frei, die ihn total überwältigten, sodaß er nicht einmal mehr den Alltag bewältigen konnte.
Lieben Gruß
Rudi
Nachdenken und Erkenntnisse sammeln sowie mit anderen Erkenntnissen vergleichen aber daraus Schlußfolgerungen ziehen http://www.rudolfprause.de
Oft gibt es Erinnerungen, die man nicht haben will. Also werden sie verdrängt. Aber es bleibt ein Bild da von etwas wie zB. ein Straßenpflaster auf dem etwas Schlimmes passierte.
Liebe Grüße Brockenhexe (-:
Nur der kann die Zukunft gestalten, der die Aufgaben der Gegenwart meistert.
Die kausale Antwort auf die Frage - können wir nicht so leicht geben, zumal wir immer noch nicht genau wissen, wie wir uns erinnern. Früher dachte man, es gäbe so etwas wie Gedächtnis-Engramme, eingeritzte Erinnerungsstücke ähnlich den Rillen einer Schallplatte oder den Bits einer Diskette. Man konnte sie abrufen, wenn man ihren Ort wußte, aber manchmal ging diese Information verloren - die Erinnerung selbst jedoch nicht. Schöpfer dieser Idee war der Erfinder der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Eine scheinbare wissenschaftliche Bestätigung erhielt die "Engramm-Theorie des Gedächtnisses" durch den kanadischen Neurochirurgen Wilder Penfield. In den Dreißigerjahren experimentierte er mit Epileptikern, denen die Schädeldecke geöffnet wurde. Durch elektrische Stimulation bestimmter Nervenzellen in der Großhirnrinde erzeugte er bei seinen Patienten lebhafte Erinnerungen. Also, folgerte er, sind diese Gedächtnisinhalte in bestimmten Zellen oder Zellgruppen gespeichert.
Fünfzig Jahre später unterzogen Elizabeth und Geoffrey Loftus die Penfield-Resultate einer kritischen Untersuchung. Ergebnis: Von den über tausend Patienten war das Phänomen nur bei 40 aufgetreten. Und in keinem Fall wurde nachgeprüft, ob es sich tatsächlich um Erinnerungen gehandelt hatte. Zudem wurden durch erneute Reizungen der gleichen Stelle andere Bilder hervorgerufen. Und einige von ihnen konnten garantiert keine Erinnerungen sein: Ein Patient gab ein Telefongespräch seiner Mutter mit ihrer Freundin wortgetreu wider. Der Clou daran: Was die Freundin geantwortet hatte, wußte er auch!
Erinnern oder Erfinden? Oder ist beides das Gleiche, nämlich Illusion? Aber dann wäre unsere gesamte Wissenschaft sinnlos, denn sie setzt eine objektive, vom menschlichen Beobachter unabhängige Realität voraus. Unser Rechtssystem würde zusammenbrechen, denn es stützt sich darauf, daß etwas geschah oder nicht geschah. Und auch unsere Therapien könnten wir uns sparen, denn diese bemühen sich ja gerade herauszufinden, was in der Vergangenheit los war - und nicht, was wir uns einbilden, daß hätte sein können. So einfach wie die Inder können wir es uns nicht machen.
Immerhin, wir wissen heute ein wenig mehr über die Vorgänge im Gehirn, wenn wir uns etwas merken. Der Hippovampus in der Zentralregion des Hirns spielt dabei eine wesentliche Rolle. Viel wichtiger für uns: Jedes Ereignis wird in zahlreichen, über die Hirnoberfläche verstreuten Zentren gespeichert. Was wir gesehen haben, wird wo anders abgelegt als das, was wir hörten, was wir fühlten, was wir dachten - oder was das Ereignis für uns bedeutet. Wenn wir uns zurückerinnern, dann muß unser Hirn diese Versatzstücke wieder mühsam zu einem Puzzle zusammenfügen, ein Prozeß, den wir nicht beeinflussen können und von dem wir nicht wissen, wie gut er funktioniert. Genau wie bei einem Puzzle unterliegen wir dabei einem fatalen Irrtum: Wenn das Gedächtnispuzzle gut aussieht, wenn es in sich geschlossen ist und alle Teile zueinander passen, dann akzeptieren wir es als die Wahrheit. Mit anderen Worten: Wir sind dann von einer Erinnerung überzeugt, wenn sie in unser Weltbild passt!
Mithin ist das real, was unser Wahrnehmungssystem, für richtig hält.
Mithin ist das real, was unser Wahrnehmungssystem, für richtig hält, weil es unserem üblichen Denkschema entspricht. Ein geradezu groteskes Beispiel beschreibt der Neurologe Vilayanur Ramachandran von der kalifornischen Universität bei San Diego. Ein Patient erlitt mit 76 einen leichten Gehirnschlag; seitdem ist ihr linker Arm gelähmt. Das ist ganz normal, ihr psychischer Zustand dagegen nicht: Sie leugnet die Lähmung mit aller Vehemenz. Fragt man sie nach dem Arm, der leblos in ihrem Schoß liegt, sagt sie: Das ist der Arm meiner Schwester; sie hat ihn bei mir liegen lassen, als sie mich zuletzt besuchte. Gibt man ihr die Aufgabe, einen Zwirn einzufädeln, sagt sie nach einiger Zeit: Wissen Sie Herr Doktor, heute schaffe ich`s nicht, mein Rheuma... (Man nennt diesen Zustand Anosognosie, was bedeutet "Krankheit des Wissens".)
Doch jetzt kommt das Groteske: Schüttet man der Patientin kaltes Wasser ins linke Ohr, dann verschwindet die Wissens-Krankheit. Plötzlich gibt sie zu, daß ihr linker Arm gelähmt ist. Die Erkenntnis hält zwischen fünf Minuten und zwei Stunden, danach wird die Wirklichkeit, wie gewohnt, ignoriert.
Auch wenn wir diese Einstellung dumm, vielleicht sogar empörend, finden: Machen wir nicht oft das gleiche? Wir bleiben unseren politischen, religiösen und sonstigen Vorstellungen und Vorurteilen treu, auch wenn wir vieles erleben, was sie Lügen straft. Und das ist auch gut so, denn für ein Ich-Bewußtsein brauchen wir nicht die Wahrheit, sondern Stabilität. Unser Wahrnehmungssystem muß Informationen sofort verarbeiten - und das geht eben nach dem Muster, das sich schon sehr früh in unsere Hirnzellen eingegraben hat. Erst bei wirklich schwerwiegenden äußeren Ereignissen sind wir bereit, unsere Weltanschauung zu ändern - oder auch nicht. Im letzteren Fall sind wir entweder erfolgreiche Sektenführer oder Anstaltsinsassen, je nach Anzahl derer, die unsere (Wahn-) Vorstellungen teilen.
Aber wir wollen wissen, was real ist, und wie wir das erkennen. Der Schlüssel zur Erkenntnis der Wirklichkeit liegt - in unseren Träumen! Und das kommt so: Bei der erwähnten Wasser-Schock-Therapie erkannte Ramachandran, daß sich die Augen schnell hin- und herbewegen, ganz wie beim REM-Schlaf (REM = rapid eye movement = schnelle Augenbewegungen). Und in dieser Phase träumen wir. Nicht im Wein liegt also die Wahrheit, wie uns die Volksweisheit wahrmachen will, sondern im Traum! Sind also Träume gar keine Schäume, sondern im Gegenteil der Versuch, die verdrängte Wirklichkeit aufzuarbeiten, uns die Realität zu zeigen, die wir nicht wahrhaben wollen? Sind Träume möglicherweise ein Schlüssel zur Wahrheit, vielleicht sogar ein Weg zur seelischen Gesundung?
Lieben Gruß
Rudi
Nachdenken und Erkenntnisse sammeln sowie mit anderen Erkenntnissen vergleichen aber daraus Schlußfolgerungen ziehen http://www.rudolfprause.de
Alle meine Gedanken, die ich in meinen Tagebüchern aufgezeichnet habe, entstanden aus meinen Träumen. Meditation ist auch eine Art träumen.
Ich hatte mal einen Spruch drauf: In der Nacht träume ich, dass ich denke und am Tag denke ich, dass ich träume. Irgendwie ist das jedenfalls bei mir so.
Auch heute früh bin ich wieder aufgestanden und habe meine Gedanken zu Papier gebracht. Ich muss sie aber jetzt nicht hier reinschreiben.
Lieben Gruß
Rudi
Phaedrus Schmeichelnde Lüge wird von Schlechten gelobt, ehrenhafte Wahrhaftigkeit bringt den Guten das Verderben.
Sie sind ganz allein Dein. Und es ist gut, zu träumen. Sie helfen bei vielem Unbewältigtem. Schon gewusst: Alice im Wunderland entstand aus den Träumen des Verfassers. Verständnisvolle Grüsse
NIna Ist das, was das Herz glaubt, nicht genauso wahr wie das, was das Auge sieht? Khalil Gibran
Es stimmt schon, Träume können Hinweise sein, Wir können durch Träume auch Mitteilungen erhalten. Sie sind aber auch dazu da, Unbewältigtes zu verarbeiten - und ganz wichtig: Träume sind für unsere psychische und seelische Gesundheit unbedingt notwendig.
In Bezug auf Unbewältigtes bezeichnen Psychologen unsere Träume gern auch als "Stuhlgang der Seele".
Ich habe einmal von einer Versuchsreihe gelesen, wo man herausfinden wollte, was passiert wenn man einen Menschen am Träumen hindert. Die Probanden wurden an ein EEG angeschlossen, und jedesmal wenn man sah, daß sie in die sog. REM-Phase hinübergleiten, also begannen zu träumen, hatte man sie geweckt.
Man musste den Versuch abbrechen - die Leute wären sonst verrückt geworden.
lg, Hans-Otto
per aspera ad astra (über rauhe Pfade zu den Sternen)